„Oh! That family...oder: Unter jedem Dach wohnt ein Ach“ Ein Deutsch-Israelisches Jugendtheateraustauschprojekt

Potsdam, September/Oktober 2021

Bis zum letzten Moment blieb es spannend: Konnte das Theaterprojekt zwischen Potsdam und Tel Aviv trotz anhaltender Pandemie physisch stattfinden? Wenige Tage vor Projektstart kam die erleichternde Nachricht: Die Teilnehmer*innen aus Israel durften sich auf den Weg nach Deutschland machen! Eine kurze Zeitspanne zwischen den Wellen, in denen die Teilnehmer*innen die Möglichkeit hatten, sich dank Impfung, regelmäßiger Testung und durchdachtem Hygienekonzept vor Ort zu begegnen.

So kamen im Herbst 2021 rund 40 junge Menschen aus Tel Aviv und Potsdam für 10 Tage in Potsdam zusammen, um sich mit einer der wohl schönsten, aber auch kompliziertesten Herausforderungen des Lebens zu beschäftigen: der Familie. Ein wohliges Gefühl der Geborgenheit trifft hier oft auch auf Stress und Spannungen, denn: „Unter jedem Dach wohnt ein Ach“! 

Bühnenszene, im Vordergrund ein Mensch mit großer Maske

Der Offene Kunstverein Potsdam und das Yoram Loewenstein Performing Arts Studio Tel Aviv haben trotz der herausfordernden Pandemie keine Zeit und Mühe gescheut, um die Jugendlichen an den reich gedeckten Tisch zu bitten und sie zu einer Reise in drei Gängen einzuladen:

Die Vorspeise: Ein erstes Kennenlernen.  Um das Eis zwischen den Teilnehmer*innen aus Deutschland und Israel zu brechen, gab es verschiedene Angebote für ein erstes Warm-Up.  Bei Musik, Gaga-Tanz und verschiedenen Methoden der Sprachanimation legten die Jugendlichen ihre Vorbehalte und Berührungsängste schnell zur Seite und lernten sich Stück für Stück persönlich kennen. So entstand bald eine vertraute und offene Atmosphäre, die eine gute Grundlage schuf, um nun noch tiefer einzusteigen und sich gemeinsam dem herausfordernden Feld der Familie zu widmen.

Der Hauptgang: Der Familie begegnen. Mit dem Ziel vor Augen, zum Abschluss des Projekts ein Theaterstück auf die Bühne zu bringen, teilten sich die Teilnehmer*innen zu Beginn der Arbeitsphase in verschiedene Workshopgruppen auf. So hatte jede*r die Möglichkeit, auf eigene Art und Weise an der Entwicklung des Theaterstücks beizutragen und die eigenen Interessen und Fähigkeiten in das Projekt einzubringen. Im Musik-Workshop wurde eigens für das Theaterstück ein Soundtrack entwickelt. Wer Lust und die Möglichkeit hatte, das eigene Musikinstrument mitzubringen, war dazu herzlich eingeladen. So wurde gemeinsam geprobt, gejammt und geschrieben – Note für Note entstanden so die Klänge von „Unter jedem Dach wohnt ein Ach!“.

Im Materialtheater wurde mit formlosen Materialien wie Mehl, Sand und Körnern gestaltet und experimentiert. Die Gruppe malte mit Mehl, knetete Teig und formte ihn später zu Brot für ein Festmahl. Hier lag der Fokus auf der Veränderbarkeit, dem Wechsel der Formen und Gegenstände. So entstand ein Raum, in dem auch die Strukturen der Familie neu gedacht und untersucht werden konnten. Denn hier ist nichts in Stein gemeißelt, sondern unterliegt ständiger Veränderung.

Gesicht aus Teig

Das autobiographische Theater stand im Zeichen der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, aber auch mit den Wünschen für die eigene Zukunft. „Was für eine Familie wünsche ich mir“? Welche Bilder und Konstrukte von Familie möchte ich entwickeln, welche hinter mir lassen? Die Jugendlichen arbeiteten mit ihrem Körper, mit Tanz und Musik, erweckten aber auch Puppen, Cyborgs und Pflanzen zum Leben, um ihren Geschichten Ausdruck zu verleihen.

Im audiovisuellen Medienworkshop wurden die Teilnehmer*innen im Vorfeld gebeten, Familienfotos und kurze, maximal zwanzigsekündige Videoschnipsel mitzubringen, die aus ihrem Leben und von ihren Familiengeschichten erzählten. Im Zusammenspiel der unterschiedlichen Bausteine wurden die eigenen analogen und digitalen Bilder ein Teil der Kulisse für das finale Theaterstück.

Mit purer Vorstellungskraft arbeiteten die Teilnehmer*innen im fünften Workshop, der die Jugendlichen dazu einlud, sich den Tiefen des eigenen Bewusstseins zu widmen. Dort verbergen sich Ängste, aber auch Glück und Freude, die im Laufe des Workshops an die Oberfläche tauchen konnten. Hier lernten die Jugendlichen, dass Worte nicht der einzige Weg sind, um intensiv mit sich selbst und mit anderen zu kommunizieren.

In den Workshops hatten die Jugendlichen die Möglichkeit, sich ganz vielfältig auszudrücken: Vom Puppenspiel über Körpertheater bis zu Schauspiel und Musik wurden die Teilnehmer*innen von Künstler*innen aus ganz unterschiedlichen Feldern an die Hand genommen.

Die Teilnehmer*innen aus Tel Aviv waren im Projekthaus Babelsberg untergebracht. Hier gab es Platz um gemeinsam zu essen, nachzudenken, zuzuhören und natürlich auch zu feiern. Neben Zeitfenstern für ein ausgelassenes Kennenlernen gab es auch Raum für gemeinsame Ausflüge. So besuchte die Gruppe gemeinsam das Mahnmal „Gleis 17“, das an die tausenden Juden*Jüdinnen erinnert, die von diesem Gleis deportiert wurden.

Mit vor Ort war die Großtante einer deutschen Teilnehmerin der Gruppe, die als Zeitzeugin davon berichtete, wie sie als kleines Kind mit ihrer Familie vor den Nazis nach Shanghai fliehen konnte und überlebte. Eine Begegnung, die Spuren hinterließ und abermals einen weiteren Blick auf die Bedeutung und den Wert „der Familie“ ermöglichte.

Zum Dessert: Die große Aufführung. Nach zahlreichen Stunden des Ausprobierens und Zusammenbastelns, des neu Erfindens und Gestaltens kam der große Moment: Die vielen kleinen und großen Elemente aus Schauspiel, Medien und Materialien wurden mit Musik garniert zu einem großen Ganzen zusammengesetzt und letztlich den Gästen in zwei Aufführungen serviert.

Gruppenszene Theaterstück

„Oh! That family“ – Unter jedem Dach wohnt ein Ach” war ein Theaterschmaus für die ganze Familie und wurde am 03.10.2021 in der fabrik Potsdam zum Besten gegeben.

Ausblick. Im Laufe der Zeit entstanden neue Freundschaften, vielleicht sogar der Beginn einer kleinen „Wahlfamilie“! In diesen Tagen finden bereits die Vorbereitungen auf die Reise nach Israel im Herbst 2022 statt. Dort erwartet die Teilnehmer*innen der zweite Teil des Projekts, er trägt den Titel: „The Tower of Babel"!

Regie: Ulrike Schlue, Nikki Bernstein, Halil Itzhak, Alon Lior

in Zusammenarbeit mit den Künstler*innen Philip Baumgarten / Daria Malygina / Tanja Wehling / Emil Bernhardt / Lukas Sweetwood / Wieland Hilker / Karl Wehling / Dana Melaver

Das Projekt wurde von ConAct, der Stadt Potsdam und dem Bund Deutscher Amateurtheater gefördert, unterstützt durch fabrik Potsdam, Waschhaus Potsdam, Inwole – Projekthaus Babelsburg, freiland und Spartacus.

Weitere Informationen zum Projekt: